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4.3

Möglicherweise waren es zwei Monate, die vergangen waren, als Lia immer häufiger einnässte. Im Sitzkreis, am Platz, in der Pause. Obwohl sie jederzeit die Möglichkeit gehabt hätte, zur Toilette zu gehen, geschah dies immer wieder und immer häufiger.

Für uns ein Zeichen dafür, dass irgendetwas in ihrem kleinen Leben nicht stimmte. 
Im Unterricht arbeitete Lia auf recht eigenwillige Weise an ihren Aufgaben und wann immer ich die Möglichkeit hatte, versuchte ich das Material der Sonderpädagogin einzusetzen und Lia sprachlich behilflich zu sein.

Ich fühlte mich komplett inkompetent und alles, was ich mir anlas oder im Internet anschaute, führte zu keiner zielgerichteten Kompetenz, sondern verunsicherte mich immer mehr.
Etwas nicht besonders gut zu machen kann unter Umständen ja auch bedeuten, weiteren Schaden anzurichten.

Mittlerweile kooperierten wir eng mit dem Jugendamt und die Eltern ließen sich darauf ein, einen Antrag auf Überprüfung des Förderbedarfs zu stellen bzw. gemeinsam mit uns zu stellen.
Das war ein erster guter Schritt, um Lia gezielt helfen zu können.

Lia war zwar nach wie vor die meiste Zeit über fröhlich und unbeschwert, trug aber ganz offensichtlich eine Last mit sich herum, was sich durch Einnässen und dann natürlich durch das anschließende Schamgefühl und Traurigkeit äußerte.
Wir hatten Wechselkleidung vor Ort, bekamen diese aber von den Eltern nie zurück, was es uns erschwerte, Lia immer sofort umkleiden zu können.

Für Lia schien es wichtig, den Schulvormittag über in einer geregelten und sicheren Umgebung zu sein. An einem Lebensort mit Struktur und dem Gefühl der Geborgenheit.
Kein Lehrplan sieht so etwas vor, doch für Vorgesehenes hatte Lia im Augenblick keine Kapazität.

Natürlich wissen wir als Lehrkräfte - und wir wissen das sehr genau - was Kinder in unserem Unterricht zu lernen hätten.
Doch ich kann den Kopf der Kinder nicht öffnen und Wissen hineinschütten, in der vagen Hoffnung, dass etwas hängen bleibt.

Was also genau ist meine Aufgabe als Lehrkraft, wenn Kinder wie Lia in meiner Klasse sitzen?

Den Lehrplan kann ich nicht umsetzen, ich habe keine magischen Fähigkeiten und egal, wie sehr ich mich bemühe, Lia wird das, was vorgesehen ist, nicht in der Schnelligkeit und mit den Möglichkeiten, die ich habe, lernen.

Sie wird es nicht können.

Ist es dann nicht meine vorrangige Aufgabe, dem Kind eine sichere und fördernde Umgebung anzubieten. Im Schutz für die wenigen Vormittagsstunden zu geben, das Kind so anzunehmen, wie es ist?
In meinem Verständnis von Inklusion ist das so.

Ich ändere nicht Lias Lebensbedingungen, ich ändere nicht Lias Biographie, aber ich kann in einem kleinen Tagesbereich den Unterschied machen.
Und ist es nicht dieser Unterschied, der etwas bewirken und ausmachen kann?

Das waren die Fragen, die Lia aufwarf. 
Unser Schulsystem habe ich lange Zeit als so geprägt wahrgenommen, dass ich eine schlechte Lehrerin sein muss, wenn Lia bei mir nicht sprechen, lesen und schreiben lernt.
Es hat lange Zeit gedauert - und Lia war nur eines von vielen Kindern, das mich das gelehrt hat - bis mir klarwurde, ich kann das System nicht ändern, aber ich kann eine Veränderung für einzelne Kinder leben.

Seltsamerweise ist das für die Kinder einer Klasse nie ein Problem, sondern eine Selbstverständlichkeit.
Nicht jeder kann alles oder muss alles können, wir können alle andere Dinge gut und einige Dinge nicht so gut.
Lia konnte nicht so gut sprechen, okay, aber wunderschön malen und zeichnen und für andere da sein, sie trösten, ihnen helfen, Dinge teilen.....

Lia war zauberhaft, so wie sie war.
Ganz und gar.





schulbeherzt 16.10.2023, 08.41

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R.
Mir gefällt deine Art zu schreiben und die Sicht auf Schule und die Kinder. Ich lese gern weiter mit.
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Marie
Liebe Schulbeherzt,
ich bin zufällig hierher gekommen und habe mich festgelesen.
Danke, dass du so offen schreibst. Deine Texte haben mich sehr berührt.
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Susanne
Ich freue mich sehr, dass Du hier in meinem Blog gelandet bist. Viel Spaß beim Lesen!
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