Ausgewählter Beitrag

1.4

Der Stuhl flog schneller durch die Klasse als ich hätte reagieren können.



Arbeitshefte wirbelten durch die Luft, Kinder schrien, einige lachten und Ali stand keuchend und zornbebend in der Zimmerecke und sah mich mit seinen dunklen, funkelnden Augen an:

„Der hat mich geärgert!“, wies er auf ein anderes Kind „ey, voll die ganze Zeit schon!“

Es war einer dieser Tage, an denen meine Geduld schlicht aufgebraucht schien:

„Heee!“, rief ich laut und alle wurde leise, nein, nicht leise, sondern still.

„Wir werfen hier keine Stühle!“ Die Sinnlosigkeit meiner Worte wurde mir sofort bewusst, aber nun hatte ich sie ausgesprochen und ergänzte gedanklich: „Und auch keine Tische, Hefte, Bücher etc. Wir werfen hier gar nichts durch den Raum!“

Ich hob den Stuhl auf, den Ali hätte aufheben sollen. Das wäre die logische Konsequenz gewesen, aber Ali war außer sich und dies erneut einer dieser Augenblicke, in denen man sekundenschnell entscheiden muss, was das Beste für alle Beteiligten ist.

Nicht immer sind es die richtigen oder gute Entscheidungen, die man trifft. Nicht bei mir, nicht bei anderen.

Wir setzten uns in den Kreis. Alle. Alle, bis auf Ali:

„Ich komm nicht. Ne, mach ich nicht. Ich setz mich nicht.“

Wir kannten das nun bereits. Seit einigen Tagen kam Ali nun bereits in unsere Klasse, so, als sei das selbstverständlich und er gehörte dazu.

Ali setzte sich selten.

An diesem Tag war an Hinsetzen nicht zu denken.

Ali blieb stehen. Gefangen in einer Wut, die wir nicht verstehen und nachvollziehen konnten und doch verstehen mussten.

Ali blieb stehen und wir sprachen im Kreis über die Situation. So, wie man mit Zweitklässlern darüber sprechen kann, dass es ein Kind in der Klasse gibt, das#große Probleme hat.

Es fühlte sich so falsch an, alles an der Situation fühlte sich falsch an.

Dass Ali nicht die Hilfe bekam, die er so bitter nötig hatte, dass Kinder, die lernen wollten und konnten Situationen wie diese erlebten und dass wir dieses Gespräch überhaupt führen mussten.

Und obwohl sich alles an der Situation falsch anfühlte, war es der Alltag.

Die Kinder hatten und haben das Recht auf einen störungsfreien Unterricht und Ali hätte eigentlich das Recht auf Hilfe gehabt.

Natürlich haben wir diese Hilfe angefordert, darum gebeten, Anträge eingereicht, Schulpsychologen bemüht etc.

Aber "das System" gab an: "Fördermöglichkeiten der Grundschule nicht ausgeschöpft!"

Mehrmals. Eigentlich immer wieder.

"Fördermöglichkeiten der Grundschule nicht ausgeschöpft!"

Und ich stand da mit einem schlechten Gewissen.

Ali gegenüber, dem ich nicht wirklich helfen konnte.

Der Klasse gegenüber, die in solche Situationen geriet.

Den Eltern gegenüber, denen ich erklären musste, dass auch das zum Schulalltag gehört.

Dem Team gegenüber, dem ich erklären musste, dass wir, obwohl wir für solche Situationen nie ausgebildet wurden, solche Situationen meistern müssen.

Mir selbst gegenüber, weil ich das Gefühl hatte, zu wenig zu wissen, zu wenig zu können, zu wenig Hilfe geben zu können....

Und ich realisierte, dass ich damit würde leben müssen. Jetzt und in Zukunft. Dass niemand mir das schlechte Gewissen abnehmen würde.

Dass ich nur an mir selbst und meiner Haltung würde arbeiten können.

Und das tat ich.



schulbeherzt 12.10.2023, 10.04

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R.
Mir gefällt deine Art zu schreiben und die Sicht auf Schule und die Kinder. Ich lese gern weiter mit.
15.10.2023-8:38
Marie
Liebe Schulbeherzt,
ich bin zufällig hierher gekommen und habe mich festgelesen.
Danke, dass du so offen schreibst. Deine Texte haben mich sehr berührt.
14.10.2023-6:42
Susanne
Ich freue mich sehr, dass Du hier in meinem Blog gelandet bist. Viel Spaß beim Lesen!
12.10.2023-10:42
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