Ausgewählter Beitrag

1.1

Das Geschrei und Gestampfe war bis hinauf in die mittlere Etage zu hören, dort, wo ich inmitten meiner zweiten Klasse stand, die Klassenzimmertür geöffnet und die 31 Kinder der Klasse beobachtete, wie sie leise und konzentriert arbeiteten.

Die Köpfe der Kinder hoben sich nahezu zeitgleich, als das Geschrei und Getöse lauter wurde, gleichsam als witterten sie – wie kleine Spürhunde – dass etwas in der Luft lag und der Schulvormittag gleich auf unerwartete Art und Weise unterbrochen werden würde.

Ich hörte das leise und beruhigende Gemurmel zweier Kolleginnen, die sich bemühten den Jungen – den Ursprung des Getöses – zu beruhigen.

Erst als die Stimme einer Lehrkraft lauter wurde, das Gestampfe als Treten wahrzunehmen war und die Lage deutlich zu eskalieren begann, bat ich meine Klasse, leise weiterzuarbeiten und huschte die Treppe hinunter.

Ich wusste, was ich sehen würde.

Es war nicht das erste Mal, dass ich dieses Bild vor Augen hatte.

Ali hatte sich mit beiden Händen an die Heizungsrohre gehängt, seine Füße traten gegen die Flurwand und er schrie:

„Ich komm nicht rein! Mach ich nicht. Ich komm nicht!“

Die Klassenlehrerin, rote Verzweiflung im Gesicht, drehte sich zu mir um, hilflos, ratlos, traurig und mutlos. Die helfende Kollegin – eher wütend – wies auf den Jungen und bat:

„Mach du das, wir haben alles versucht!“

Mach du das!

So, als könne man Traumatisierung vom Tisch wischen, wie einen feuchten Fleck umgekippter Milch.

Mach du das!

Ali sah mich, der Takt seines Tretens wurde schneller und auch mich schrie er an:

„Ich komm nicht!“

Auf dem Boden vor ihm lag sein Sportbeutel, Indiz dafür, dass die Klasse gerade vom Sportunterricht gekommen sein musste.

Ich bat die Klassenlehrerin seine Sachen zusammenzupacken und erklärte dem aufgebrachten Jungen, dass er gern, wenn er sich beruhigt hätte, in meine Klasse kommen könne.

Es waren nicht die richtigen Worte und es war auch nicht die richtige Entscheidung.

Es gab keine richtigen Worte und es gab auch keine richtige Entscheidung. Nicht für Ali. Nicht  in dieser Situation.

Die Klassenzimmertüren der anderen Klassen, sonst immer offenstehend, waren mittlerweile ob der lautstarken Situation geschlossen worden.

Die Hoffnung, dass Ali ermüden würde, schwanden. Oben warteten 31 Kinder auf mich, ihre Lehrerin.

Es war ein Abwägen. In Minutenschnelle. Ali konnte im Flur nicht wirklich viel passieren.

Die Klasse war allein.

Ali brauchte mich.

Die 31 Kinder brauchten mich.

Ich erklärte Ali, dass die anderen Kinder mich nun brauchen würden, ich aber gern gleich nochmal zu ihm käme.

Seine Sachen würde ich schonmal mit in meinen Klassenraum nehmen und wenn er wolle, könne er jederzeit kommen und sich zu uns in die Klasse gesellen.

Er sei herzlich eingeladen.

„Ich will aber nicht!“, schrie Ali, „ich will nicht!“

Es war der zweite Tag für mich als Schulleitung.

Es war der Tag, der meine Haltung veränderte, der alles veränderte.

Und dafür bin ich Ali dankbar. Auch heute noch.

schulbeherzt 12.10.2023, 09.27

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R.
Mir gefällt deine Art zu schreiben und die Sicht auf Schule und die Kinder. Ich lese gern weiter mit.
15.10.2023-8:38
Marie
Liebe Schulbeherzt,
ich bin zufällig hierher gekommen und habe mich festgelesen.
Danke, dass du so offen schreibst. Deine Texte haben mich sehr berührt.
14.10.2023-6:42
Susanne
Ich freue mich sehr, dass Du hier in meinem Blog gelandet bist. Viel Spaß beim Lesen!
12.10.2023-10:42
Kommentare:
Anne Seltmann:
Moin Susanne!Ich fühle mich gerade zur&u
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Sandra:
...das ist es ...... das sollte Schule sein..
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