Ausgewählter Beitrag

1.6

Alis Mutter lächelte mich hoffnungsfroh an. "Ali gut?", wollte sie von mir wissen und ich wusste nicht, wie ich darauf angemessen antworten sollte.

Drei ihrer anderen Kinder besuchten schon unsere Schule, zwei würden in den nächsten Jahren folgen. Wir kannten die schwierige und tragische Familiengeschichte und all den Kummer, den insbesondere diese Mutter zu schultern hatte."Ali gut?", und es lag soviel Hoffnung in diesen Worten.

Das Leben hatte dieser Frau reichlich zugesetzt. Ihr Alltag war geprägt von Leid, Sorge und Angst. Nun saß sie hier und alles, was sie zu hören hoffte war, dass es nicht noch weiteren Kummer gäbe. Dass ich einfach sagen würde: "Alles ist okay!"

Und ich wollte nicht die Person sein, die dieser Frau weiteren Kummer zufügte, ich wollte doch einfach nur dieser Mensch sein, der an einen anderen Menschen glaubte.
Was antwortet man auf eine solche Frage? Wie nimmt man einer solchen Frau das kleine bisschen Hoffnung? Wie führt man Elterngespräche, wenn man um die Situation einiger Familien weiß, was kann man überhaupt für diese Familien tun?

Ich dachte daran, dass Ali mittlerweile an seinem Platz in unserer Klasse saß. Dass schon lange keine Stühle mehr geflogen waren, dass das Heizungsrohr einfach nur noch ein Rohr und kein Stabilitätsgeber mehr war.
Ich dachte daran, dass Ali gelernt hatte, mir ein wenig zu vertrauen. Ein ganz klein wenig. 
Ich dachte daran, dass Ali morgens wie selbstverständlich in unsere Klasse kam, an die vielen Gespräche.
Ich dachte daran, dass die Fördermöglichkeiten der Grundschule noch nicht ausgeschöpft waren und daran, dass meine Arbeit lange nicht erledigt war.
Ich dachte daran, dass ich diese Frau mit ein klein wenig Hoffnung in den Tag gehen lassen könnte und daran, dass ich ihre Last erneut beschweren könnte.
Ich dachte an die Verantwortung, die ich trug und an Ali, der heute erstmals gelächelt hatte.

Ich dachte an die unzähligen Gespräche mit all den anderen Institutionen, von denen wir Hilfe für die Familie erhofften.
Es war natürlich nicht alles okay. Ich wusste, dass die Mutter sich dessen bewusst war.
Ich wusste es von so vielen Gesprächen.

Das, was diese Frau an diesem Tag einfach brauchte war ein kleines Stück Hoffnung.
Und ich gab es ihr:
"Alles okay so weit!", sagte ich "ich habe Ali sehr ins Herz geschlossen!"

Und zumindest das stimmte. Ich hatte Ali ins Herz geschlossen.

Die Mutter ging mit einem Lächeln in den restlichen Tag.
Manchmal kann man es nicht richtig machen.
Und doch ist es richtig!


schulbeherzt 12.10.2023, 11.01

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Kommentare zu diesem Beitrag

1. von Gaby

Liebe Susanne Schäfer,
vor 4 Jahren ließ ich mich nach fast 30 Jahren aus der Beamtung in NRW entlassen. Seitdem arbeite ich im Ausland. Nächstes Jahr kehre ich als angestellte Grundschullehrerin zurück - jetzt nach Bremerhaven, wo ich endlich inklusiv arbeiten kann, da mein Herz noch immer für alle „Alis“ - und natürlich auch für seine KlassenkameradInnen - schlägt.
Vielen Dank für deine Geschichte, die mich bestärkt, den Weg zu gehen.
Liebe Grüße
Gaby




vom 15.10.2023, 10.48
Antwort von schulbeherzt:

Liebe Gaby,
ich wünsche Dir von Herzen einen guten Neuanfang und freue mich sehr, dass die Schulwelt Dich zurück hat!
Alles Liebe für Dich und danke, dass Du Dir die Zeit für einen Kommentar genommen hast.

"Das Wissen, dass mindestens eine Person dank deiner Existenz ein besseres Leben hatte - das bedeutet Erfolg!" Ralph Waldo Emerson
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R.
Mir gefällt deine Art zu schreiben und die Sicht auf Schule und die Kinder. Ich lese gern weiter mit.
15.10.2023-8:38
Marie
Liebe Schulbeherzt,
ich bin zufällig hierher gekommen und habe mich festgelesen.
Danke, dass du so offen schreibst. Deine Texte haben mich sehr berührt.
14.10.2023-6:42
Susanne
Ich freue mich sehr, dass Du hier in meinem Blog gelandet bist. Viel Spaß beim Lesen!
12.10.2023-10:42
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Anne Seltmann:
Moin Susanne!Ich fühle mich gerade zur&u
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Sandra:
...das ist es ...... das sollte Schule sein..
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